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NATO-Annäherung: von einem diffusen Gefühl zu konkreten Formen

Michael Honegger, Thomas Ferst, Tibor Szvircsev Tresch

14.04.2024

Die Studie «Sicherheit 2024» erhebt zum ersten Mal die Meinung zu sieben Formen der Annäherung an die NATO. Nun zeigt sich, welche konkreten Massnahmen in welchen Bevölkerungsgruppen mehrheitsfähig sind.

Seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine steht die Annäherung der Schweiz an die Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) wieder weit oben auf der politischen Agenda. Wie Daten der letzten Jahre zeigen, sieht die Schweizer Stimmbevölkerung eine NATO-Annäherung weniger kritisch als vor Kriegsausbruch (Szvircsev Tresch et al., 2024). Die Studie «Sicherheit 2024» erhebt zum ersten Mal die Meinung zu sieben konkreten Formen der Zusammenarbeit mit der NATO, welche mit dem Neutralitätsrecht kompatibel sind. Die Daten erlauben es, ein detailliertes Bild zu zeichnen, welche Kooperationsformen in der Schweizer Bevölkerung mehrheitsfähig sein könnten. Weiter zeigt der vorliegende Artikel auf, welche gesellschaftlich relevanten Gruppen welche Annäherungsformen unterstützen oder ablehnen.

Von externer Bedrohung und Kooperationsbereitschaft

Im vergangenen Jahr zeigte die Studie «Sicherheit 2023», dass zum ersten Mal eine knappe Mehrheit von 55% der Stimmberechtigten eine Annäherung an die NATO unterstützt (Szvircsev Tresch et al., 2023). Diese Meldung erlangte grosse nationale und internationale Aufmerksamkeit (Roost et al., 2023). Schliesslich sorgt die Schweizer Neutralität traditionell für ein eher distanziertes Verhältnis zur NATO. Seit der Gründung des Verteidigungsbündnisses 1949 war klar, dass die Neutralität den Beitritt verunmöglichen würde (Nünlist 2017, S. 182). Auch die blosse Annäherung wurde unter neutralitätspolitischen Gesichtspunkten kritisch diskutiert. So war die Schweizer Teilnahme am NATO-Programm «Partnership for Peace» (PfP) am 11. Dezember 1996 erst nach jahrelangen Neutralitätsdebatten und unter dem Eindruck der Schrecken des Bosnienkrieges politisch durchsetzbar. National-konservative Kreise forderten seither immer wieder ein Ende der Kooperation (Nünlist 2017, S. 190 ff.).

Eine mögliche Erklärung für die dennoch grösser gewordene Unterstützung der Annäherung an die NATO seit dem Ukrainekrieg liefert die funktionalistische Hypothese der externen Bedrohungen (siehe z.B. Stein, 1976). Gemäss dieser wird die internationale Kooperation in Kriegszeiten allgemein stärker unterstützt. Fühlen sich Bürger:innen bedroht, suchen sie nach effektiven Mitteln, der Bedrohung etwas entgegenzusetzen. Internationale Sicherheitskooperationen können dieses Bedürfnis stillen. Mader (2024) zeigt, dass sich die Bevölkerungsmeinung in zehn europäischen Ländern nach Beginn des Ukrainekrieges tatsächlich, wie von der Hypothese vorausgesagt, verändert und die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich beliebter wurde. Roost et al. (2023) weisen den Effekt von äusseren Bedrohungen durch Kriege in Europa auf den Kooperationswillen im Allgemeinen für die Schweiz nach. Gemäss den Autoren sind Schweizer Stimmberechtigte nicht nur seit dem Ukrainekrieg kooperationswilliger, sondern zeigen sich immer offener, wenn Krieg in Europa herrscht. Sie legen aber auch dar, dass verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich auf Krisen reagieren. So reagieren politisch linksorientierte Personen und ältere Befragte stärker auf den Krieg.

Auch diese differenzierten Resultate können aus einer post-funktionalistischen Perspektive theoretisch erklärt werden. Die psychologische Fachliteratur zeigt, dass Bedrohungen zu Misstrauen und Intoleranz gegenüber Fremdem führt und stattdessen Mitglieder der eigenen Gruppe stärker begünstigt werden. Werden potenzielle Kooperationspartner als aussenstehend wahrgenommen, ist die Zusammenarbeit weniger beliebt. Entsprechend ist davon auszugehen, dass politisch rechts eingestellte Personen die NATO und ihre Mitgliedsstaaten als fremd einstufen könnten. Empirische Befunde stützen diese These aber nur teilweise. So zeigen Mader et al. (2023) im Gegensatz zu Roost et al. (2023), dass sich die Meinungen zur sicherheitspolitischen Integration innerhalb der EU von euroskeptischen und europhilen Personen nicht unterscheiden.

Wird die post-funktionalistische Perspektive auf die Schweiz und die hiesige NATO-Annäherungsdebatte angewendet, sind die wichtigsten potenziellen Einflussfaktoren wie oben dargelegt die Einstellung gegenüber der Neutralität und die politische Einstellung der Bevölkerung. Wer die Neutralität strikt auslegt, beurteilt die Kooperation stets kritischer (siehe Szvircsev Tresch et al., 2023). Weiter zeigen Roost et al. (2023) auf, dass die politische Einstellung den Kooperationswunsch beeinflusst. Inwiefern diese verschiedenen Gruppen die Annäherung an die NATO beurteilen, wird im Folgenden dargelegt.

Darüber hinaus beschäftigt sich dieser Artikel auch mit den verschiedenen Formen der Annäherung an die NATO. Bisherige Analysen zum Kooperationswillen der Schweizer Bevölkerung stützen sich alle auf die allgemeine Meinung zu einer NATO-Annäherung. Obwohl davon auszugehen ist, dass der Begriff «NATO-Annäherung» verschiedene Vorstellungen hervorruft, wird selten über konkrete Annäherungsformen diskutiert.

Formen der Annäherung an die NATO

Die Teilnahme an «Partnership for Peace» (PfP) im Jahr 1996 stellte einen Wendepunkt der Schweizer Beziehungen zur NATO dar. Seither bewegt sich die Zusammenarbeit in einem offizialisierten Rahmen und bietet der Schweiz dennoch viel Flexibilität. Beispielsweise verzichtet die Schweiz mit Verweis auf ihre Neutralität bisher auf eine Teilnahme an Militärübungen (Nünlist 2017, S. 191). Zusätzlich beteiligt sich die Schweizer Armee seit dem 11. Juni 1999 an der Kosovo Force (KFOR), einem von der NATO geführten friedensunterstützenden Einsatz (Der Bundesrat, 2022, S. 19).

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die Annäherung an die NATO wieder auf der politischen Agenda. In seinem Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 legt der Bundesrat (2022, S. 19–23) eine detaillierte Liste von möglichen Kooperationsformen dar. Die Studie «Sicherheit 2024» versucht daraus möglichst vollständig die verschiedenen Facetten der Kooperation mit der NATO abzubilden und stellt Fragen zu möglichen Kooperationsformen aus verschiedenen Bereichen der Zusammenarbeit. Bei diesen Bereichen handelt es sich um die politische und institutionelle Annäherung, die technologische Kooperation und Formen der operativen Zusammenarbeit. Alle erfragten Massnahmen sind mit dem Neutralitätsrecht vereinbar und ein Teil davon wird bereits heute umgesetzt. Dies wurde den Befragten aber nicht gesagt. Sie wurden gebeten anzugeben, ob sie mit den Aussagen in Tabelle 1 «sehr einverstanden», «eher einverstanden», «eher nicht einverstanden» oder «gar nicht einverstanden» sind.

 

Studie «Sicherheit 2024»

Die Studienreihe «Sicherheit» misst die langfristigen Trends und Tendenzen in der aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsbild der Schweiz. Die für die Schweizer Stimmbevölkerung repräsentative Befragung wurde in diesem Jahr vom 3. Januar bis 22. Januar 2024 durch YouGov Schweiz (ehemals LINK Marketing Services AG) durchgeführt. Hierfür wurden insgesamt 1223 Stimmberechtigte aus den drei grossen Sprachregionen der Schweiz (Deutschschweiz, Westschweiz, Tessin) telefonisch befragt. Der Stichprobenfehler liegt im ungünstigsten Fall bei einem Sicherheitsgrad von 95% bei ±2.9%. Die Studie «Sicherheit 2024» kann auf https://css.ethz.ch/publikationen/studie-sicherheit.html heruntergeladen werden.

 

Tabelle 1: Messung der Akzeptanz von Kooperationsformen mit der NATO

Dimension

Item

Politische und institutionelle Kooperation

«Die Schweiz sollte keine Gespräche mehr mit der NATO führen.»[1]

«Die Schweiz sollte ein «Individuelles Partnerschaftsprogramm» (ITPP) mit der NATO planen.»

«Die Schweiz sollte vermehrt Gastgeberin von gemeinsamen Veranstaltungen von der NATO sein.»

Technologische Kooperation

«Die Schweiz sollte zusammen mit der NATO militärisch nutzbare Technologien weiterentwickeln.»

«Die Schweiz sollte vor allem Waffensysteme bevorzugen, wo zusammen mit der NATO verwendet werden können.»

Operative
Kooperation

«Die Schweiz sollte ihre Luftüberwachung ohne die Hilfe von der NATO durchführen.»[1]

«Die Schweiz sollte Milizsoldaten an gemeinsame Verteidigungsübungen mit der NATO schicken.»

 

Wie der Grafik 1 (siehe Titelbild) entnommen werden kann, erreichen vier Kooperationsformen in der Bevölkerung eine klare Mehrheit. Der fortlaufende Dialog mit der NATO erhält den höchsten Zuspruch unter allen abgefragten Kooperationsmöglichkeiten. Nur 9% stimmen einem Abbruch der Gespräche zu. 88% hingegen möchten den Dialog mit der NATO weiterführen. An zweiter und dritter Stelle stehen die beiden Formen der technologischen Kooperation: Insgesamt befürworten 72% der Befragten, dass die Schweiz gemeinsam mit der NATO militärisch nutzbare Technologien weiterentwickeln soll. Weiter sind 69% der Ansicht, dass die Schweiz vor allem auf Waffensysteme setzen sollte, die zusammen mit der NATO verwendet werden können. Schliesslich spricht sich mit 61% auch eine Mehrheit dafür aus, dass die Schweiz ein «Individuelles Partnerschaftsprogramm» (ITPP) mit der NATO planen soll. Bei letzterem handelt es sich um ein rechtlich nicht bindendes Dokument, welches die Ziele der Zusammenarbeit definiert (Der Bundesrat, 2024, S. 24).

Keine klaren Mehrheiten gibt es in der Stimmbevölkerung bezüglich der operativen Kooperationen mit der NATO. 50% sind der Auffassung, die Schweiz sollte Milizsoldaten zu gemeinsamen Verteidigungsübungen mit der NATO entsenden, während 48% dafür plädieren, dass die Schweiz ihre Luftraumüberwachung ohne die Hilfe der NATO durchführen sollte. Umgekehrt sprechen sich damit 49% dafür aus, die Luftraumüberwachung mit Hilfe der NATO durchzuführen. Eine klare Ablehnung erfährt der Vorschlag, dass die Schweiz vermehrt als Gastgeberin für gemeinsame NATO-Veranstaltungen fungieren sollte. Hierfür sprechen sich 42% der Stimmberechtigten aus.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die politische und institutionelle Kooperation mit der NATO breite Zustimmung erfährt, solange diese auf der Ebene von Gesprächen und Planungen bleibt. Zudem möchte die Schweiz ihre Armee technologisch so ausrüsten, dass sie im Extremfall mit der NATO zusammen funktionieren könnte. Sobald die Kooperation bereits heute einen konkreten operativen Charakter annimmt, sind die Stimmberechtigten zurückhaltender.

Gruppenabhängige Zustimmung zu Kooperationsformen mit der NATO

Neben der rein deskriptiven Beschreibung, welche der erfragten Kooperationsformen in der Bevölkerung eine Mehrheit finden, wird in diesem Artikel aufgezeigt, welche Annäherungsformen für welche Gruppen akzeptabel sind. Die erste relevante Grundsatzfrage ist, welche Kooperationen für Personen in Frage kommen, die im Allgemeinen für oder gegen eine Annäherung oder einen NATO-Beitritt sind. 30% der Befragten bilden die Gruppe der NATO-freundlichen Beitritts-Befürwortenden. Im Gegensatz dazu sprechen sich 44% gegen eine Annäherung aus. Die grösste Gruppe bilden mit 66% die Beitritts-Ablehnenden. Schliesslich stimmen 52% einer Annäherung an die NATO zu. In Tabelle 2 ist für jede dieser vier Gruppen aufgeführt, wie hoch die Werte der durchschnittlichen Zustimmung zu den erfragten Kooperationsformen mit der NATO sind. Die in der jeweiligen Gruppe mehrheitsfähigen Vorschläge sind grau eingefärbt. Diejenigen ohne Mehrheit sind gelb markiert.

Tabelle 2: Einstellungen zu konkreten Kooperationsformen mit der NATO für die Gruppen der Befürwortenden und Ablehnenden eines NATO-Beitrittes bzw. einer NATO-Annäherung.

Gruppenbezeichnung

 

(gerundeter Prozentsatz der Befragten[2])

Beitritts-Befürwortende

(30%)

Annäherungs-Befürwortende

(52%)

Beitritts-Ablehnende

(66%)

Annäherungs-Ablehnende

(44%)

 

Gespräche mit der NATO führen[3]

96%

97%

87%

81%

 

Technologien gemeinsam entwickeln

89%

87%

68%

57%

 

Interoperable Waffen bevorzugen

83%

83%

65%

55%

 

ITPP mit der NATO planen

87%

82%

53%

40%

 

Luftraumüberwachung mit der NATO[3]

65%

62%

42%

34%

 

Verteidigungsübungen mit Milizsoldaten

75%

69%

40%

28%

 

Gastgeberin NATO-Veranstaltungen

66%

56%

31%

25%

 

                                                                grau     Kooperationsform mit mehrheitlicher Zustimmung

                                                                gelb     Kooperationsform ohne mehrheitliche Zustimmung

 

Das Weiterführen von Gesprächen und die technologische Zusammenarbeit haben in allen Gruppen klare Mehrheiten. Während die Planung eines «Individuellen Partnerschaftsprogramms» bei den NATO-freundlicheren Gruppen eindeutige Mehrheiten findet, sind die Beitritts-Ablehnenden in zwei ähnlich grosse Lager gespalten. Diejenigen, die auch eine Annäherung an die NATO ablehnen, sprechen sich mehrheitlich gegen diese Annäherungsform aus.

Bei den restlichen Massnahmen zur Kooperation sind die vier Gruppen gespalten. Die Gruppen, die einer Annäherung oder einem Beitritt zustimmen, sprechen sich für die Zusammenarbeit bei der Luftraumüberwachung, das Entsenden von Milizsoldaten zu gemeinsamen Verteidigungsübungen und das vermehrte Auftreten der Schweiz als Gastgeberin von gemeinsamen Veranstaltungen der NATO aus. Personen, die den Beitritt zur NATO oder die Annäherung ablehnen, befürworten keine dieser drei Formen der Zusammenarbeit.

Wie oben ausgeführt sind die politische Einstellung und die Einstellung gegenüber der Neutralität die relevanten Einflussgrössen auf die Kooperationsbereitschaft. Die Studie «Sicherheit 2024» erhebt die politische Einstellung der Stimmbevölkerung mit der klassischen Elfer-Skala. Die Befragten können in drei politische Lager eingeteilt werden: Die politisch Rechten, welcher 40% der Bevölkerung angehören, die Linke mit 28% und schliesslich die politische Mitte, welcher sich 28% der Schweizer:innen zuordnen. Tabelle 3 zeigt, wie diese Lager zu den verschiedenen Annäherungsformen stehen. Wiederum zeigt sich, dass politische und technologische Kooperationen in allen Gruppen mehrheitsfähig sind. Mit der Ausarbeitung eines ITPP ist gar noch eine weitere Form der Zusammenarbeit in allen Gruppen akzeptiert. Darüber hinaus sind links Eingestellte und die politische Mitte offen für weitere Annäherungsformen. Die Linke lehnt keine einzige der Annäherungsformen klar ab, während die politische Mitte sich einzig klar gegen mehr NATO-Veranstaltungen mit der Schweiz als Gastgeberin ausspricht. Die Rechte zeigt indes ein differenziertes Bild. Politisch rechts Eingestellte sind insbesondere offen für technologische Annäherungsformen, sprechen sich aber mehrheitlich gegen Kooperationen im operationellen Bereich aus. Gemeinsame Übungen oder die gemeinsame Luftraumüberwachung tangieren die Souveränität und den Kern der Neutralität für rechts eingestellte Befragte bereits zu stark. Gleichzeitig haben rechts Eingestellte im Allgemeinen weniger Vorbehalte gegenüber Waffentechnologien (Wenzelburger & Böller, 2019). Dies zeigt sich auch an der hohen Zustimmung zur technologischen Zusammenarbeit in dieser Gruppe.

 

Tabelle 3: Einstellungen zu konkreten Kooperationsformen mit der NATO für die verschiedenen politischen Ausrichtungen

Gruppenbezeichnung

(gerundeter Prozentsatz der Befragten)

Links

(29%)

Mitte

(28%)

Rechts

(40%)

 

Gespräche mit der NATO führen[3]

92%

89%

87%

 

Technologien gemeinsam entwickeln

74%

71%

75%

 

Interoperable Waffen bevorzugen

73%

68%

72%

 

ITPP mit der NATO planen

68%

64%

58%

 

Allgemeine NATO-Annäherung

62%

52%

49%

 

Luftraumüberwachung mit der NATO[3]

62%

49%

41%

 

Verteidigungsübungen mit Milizsoldaten

55%

52%

47%

 

Gastgeberin NATO-Veranstaltungen

49%

42%

36%

 

NATO-Beitritt

41%

30%

22%

 

 

                                                                grau   Kooperationsform mit mehrheitlicher Zustimmung

                                                                gelb   Kooperationsform ohne mehrheitliche Zustimmung

 

Das lange gewachsene Neutralitätsverständnis der Schweiz prägt jede aussenpolitische Diskussion seit der Entstehung des Nationalstaats: Seien es die Sanktionen des Völkerbunds gegen Italien im Zuge des Abessinienkriegs 1935, die Nomination ins «Neutral Nations Supervisory Committee» (NNSC) zur Überwachung der innerkoreanischen Grenze im Jahr 1953 oder die Teilnahme am PfP (Ferst & Roost, 2023; Zala et al., 2023, S. 17ff.; Nünlist, 2017, S. 190 ff.). Entsprechend spielen die Meinungen zur Neutralität auch eine Rolle in der aktuellen Diskussion um eine allfällige Annäherung an die NATO. Auch wenn die Neutralität an sich dank ihrer verschiedenen Funktionen in der ganzen Bevölkerung grossen Rückhalt geniesst (Szvircsev Tresch et al., 2024),  besteht eine Debatte über ihre Auslegung. Eine sogenannt differenzierte Auslegung der Neutralität verleiht der Schweiz mehr aussenpolitischen Spielraum. Sie erlaubt beispielsweise, bei politischen Konflikten im Ausland stärker Stellung zu beziehen. Die Studie «Sicherheit 2024» erhebt nicht nur die allgemeine Einstellung zur Beibehaltung der Neutralität[4], sondern auch die Meinung zu einer «differenziellen» Auslegung[5]. Dies erlaubt wiederum, die Zustimmung zu den Annäherungsformen nach den verschiedenen Interpretationen der Neutralität aufzuschlüsseln (siehe Tabelle 4). Die Gruppe derjenigen, die eine «differenzielle» Auslegung ablehnen und eine striktere Auslegung bevorzugen, umfasst 46% der Stimmbevölkerung. Die grösste Gruppe (91%) bilden jene, welche der Beibehaltung der Neutralität im Allgemeinen zustimmen. 51% befürworten die «differenzielle» Neutralität. Schliesslich besteht die neutralitätskritischste Gruppe aus 9% der Stimmbevölkerung, welche die Neutralität nicht beibehalten möchte.

Wiederum zeigt sich, dass in allen Gruppen sowohl politische wie auch technologische Annäherungsformen von einer Mehrheit unterstützt werden. Selbst die Gruppe, welche eine strikte Auslegung der Neutralität fordert und eine Annäherung im Allgemeinen ablehnt, ist bereit zu Gesprächen, technologischen Annäherungen und der institutionellen Zusammenarbeit im Rahmen eines ITPP. Ähnliches gilt für die Befürwortenden der Neutralität im Allgemeinen. Im Gegensatz dazu stimmen Personen, die der Neutralität ablehnend gegenüberstehen, allen Annäherungsformen zu und befürworten auch einen Beitritt zur NATO mehrheitlich. Für sie ist die Alternative zur Neutralität eindeutig eine stärkere Anbindung an die NATO. Auch Personen, die eine «differenzielle» Auslegung der Neutralität befürworten, unterstützen eine grosse Bandbreite von Annäherungsformen. Sie lehnen keine Kooperationsform mit einer klaren Mehrheit ab.

Tabelle 4: Einstellungen zu konkreten Kooperationsformen mit der NATO für die verschiedenen politischen Ausrichtungen

Gruppenbezeichnung

 

(gerundeter Prozentsatz der Befragten)

Ablehnende differenzielle Neutralität

(46%)

Befürwortende Neutralität


(91%)

Befürwortende differenzielle Neutralität

(51%)

Ablehnende Neutralität


(9%)

Gespräche mit der NATO führen[3]

88%

87%

89%

96%

Technologien gemeinsam entwickeln

66%

71%

80%

89%

Interoperable Waffen bevorzugen

65%

68%

74%

87%

ITPP mit der NATO planen

57%

60%

68%

78%

 Allgemeine NATO-Annäherung

44%

49%

60%

83%

Luftraumüberwachung mit der NATO[3]

47%

46%

51%

72%

Verteidigungsübungen mit Milizsoldaten

43%

47%

56%

76%

Gastgeberin NATO-Veranstaltungen

34%

39%

48%

66%

NATO-Beitritt

23%

25%

35%

68%

 

                                                                grau   Kooperationsform mit mehrheitlicher Zustimmung

                                                                gelb   Kooperationsform ohne mehrheitliche Zustimmung

 

 

Schlussfolgerungen

Die Debatte über die Annäherung an die NATO ist weiterhin in vollem Gange (siehe z.B. Häsler, 2024). Während bereits bekannt war, dass die Bevölkerung grundsätzlich offen für eine Annäherung ist (Szvircsev Tresch et al., 2023), zeigen die Daten der Studie «Sicherheit 2024» erstmals ein differenziertes Meinungsbild zu verschiedenen konkreten politischen und institutionellen» Annäherungsformen. Die Schweizer Stimmbevölkerung zeigt sich dabei mehrheitlich offen für Annäherungen im politischen und technologischen Bereich, ist aber zurückhaltender, sobald es um operationelle Kooperationen geht. Insbesondere gilt, dass Gespräche mit der NATO und die technologische Zusammenarbeit in keiner relevanten Gruppe abgelehnt werden. Sogar Personen, welche die Neutralität strikt auslegen oder die Annäherung an die NATO grundsätzlich ablehnen, sprechen sich hierfür aus (Szvircsev Tresch et al., 2024).

Die allgemein hohe Bereitschaft zur Zusammenarbeit und insbesondere die gewachsene Kooperationsbereitschaft seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bestätigt die Hypothese der externen Bedrohungen. Gleichzeitig zeigen sich in der Schweizer Bevölkerung erhebliche Meinungsunterschiede zwischen verschiedenen Gruppen. Wer rechter eingestellt ist und die Neutralität strikt auslegt, spricht sich weniger stark für Kooperationen mit der NATO aus. Dies wiederum bestätigt die post-funktionalistische Hypothese zumindest teilweise.

Die dargelegten Analysen beschränken sich alle auf bivariate Berechnungen. Sie vergleichen also nur jeweils zwei Variablen miteinander und lassen andere potentiell wichtige Einflussfaktoren bewusst ausser Acht. Dies erlaubt grundsätzlich Rückschlüsse darauf, welche gesellschaftlichen Gruppen welche Ansichten vertreten. In zukünftigen Untersuchungen könnten die verschiedenen Einflussfaktoren gemeinsam betrachtet werden, was ein noch differenziertes Bild der wichtigsten Determinanten der Meinungsbildung zeichnen würde.

 

Verwendete Literatur

Der Bundesrat. (2022). Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine: Bericht des Bundesrates.

www.fedlex.admin.ch/eli/fga/2022/2357/de

Der Bundesrat. (2024). Verteidigungsfähigkeit und Kooperation: Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulats 23.3000 SiK-S vom 12. Januar 2023 und des Postulats 23.3131 Dittli vom 14. März 2023.

www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/85931.pdf

Ferst, T. & Roost, T. (2023). 1937 – 2011 – 2022: Kriege und Sanktionen triggern das Neutralitätsverständnis und begünstigen das Lancieren von Neutralitätsinitiativen. Stratos.

Häsler, G. (2024, 30. März). Der Bundesrat hält sich die NATO-Option offen. Neue Zürcher Zeitung, 9.

Mader, M. (2024). Increased support for collective defence in times of threat: European public opinion before and after Russia’s invasion of Ukraine. Policy Studies, 1–21.

doi.org/10.1080/01442872.2024.2302441

Mader, M., Gavras, K., Hofmann, S. C., Reifler, J., Schoen, H. & Thomson, C. P. (2023). International threats and support for European security and defence integration: Evidence from 25 countries. European Journal Of Political Research.

doi.org/10.1111/1475-6765.12605

Nünlist, C. (2018). Switzerland and NATO: From Non-Relationship to Cautious Partnership. In A. Cottey (Hrsg.), The European Neutrals and NATO: The European Neutrals and NATO: Non-alignment, Partnership, Membership? (S. 181–210). Palgrave Macmillan UK eBooks, London.

doi.org/10.1057/978-1-137-59524-9

Roost, T., Ferst, T. & Szvircsev Tresch, T. (2023). Kriege in Europa führen zu stärkerer Kooperationsbereitschaft mit der NATO. Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, 7/23, 40–42.

Scholle, A. (2015). Akquieszenz. In R. Diaz-Bone & C. Weischer (Hrsg.), Methoden-Lexikon für die Sozialwissenschaften (S. 15). Springer VS.

Stein, A. (1976). Conflict and Cohesion. Journal Of Conflict Resolution, 20(1), 143–172.

doi.org/10.1177/002200277602000106

Szvircsev Tresch, T., Wenger, A., De Rosa, S., Ferst, T., Honegger, M., Rizzo, E. & Robert, J. (2024). Sicherheit 2024: Bericht zur Medienkonferenz vom 26 .03.2024 aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich.

Szvircsev Tresch, T., Wenger, A., De Rosa, S., Ferst, T., Rizzo, E., Robert, J. & Roost, T. (2023). Sicherheit 2023. Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich und Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, Birmensdorf und Zürich.

Wenzelburger, G. & Böller, F. (2019). Bomb or build? How party ideologies affect the balance of foreign aid and defence spending. British Journal Of Politics & International Relations (Print), 22(1), 3–23.

doi.org/10.1177/1369148119883651

Zala, S., Steiner, Y. & Bär, D. (2023). Die Schweiz und die NNSC: Diplomatische Dokumente der Schweiz zur Geschichte der Neutral Nations Supervisory Commission in Korea 1951–1995 (1. Aufl.). Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

www.dodis.ch/de/q21

 

[1] Diese zwei Aussagen beinhalten aus forschungsmethodischen Gründen in der Formulierung eine Negation, damit nicht alle Aussagen in die gleiche Richtung gepolt sind. So können Inkonsistenzen im Antwortverhalten aufgedeckt werden (Scholle, 2015).

[2] Die Prozentangaben ergänzen sich nicht auf 100%, da Befragte auch mit «weiss nicht» und «keine Antwort» antworten können (jeweils 4% für NATO-Beitritt und NATO-Annäherung).

[3] Diese Kooperationsformen wurden mithilfe negativ formulierter Aussagen abgefragt. Für diese Darstellung wurden die Antworten umgepolt.

[4] Mit der Aussage «die Schweiz sollte die Neutralität beibehalten» wird die Einstellung zum Neutralitätsprinzip gemessen. 91% Zustimmung im Januar 2024 (Szvircsev Tresch et al., 2024).

[5] Mit der Aussage «Die Schweiz sollte bei politischen Konflikten im Ausland klar Stellung für die eine oder andere Seite beziehen, bei militärischen Konflikten aber neutral bleiben» wird die Einstellung zur «differenziellen» Neutralität gemessen. Im Januar 2024 wird eine Zustimmung von 51% gemessen (Szvircsev Tresch et al., 2024).

 

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